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Man kann über viele Dinge stolpern: einen Bordstein, ein falsch abgelegtes Ladekabel, die eigenen Füße. Doch nichts bringt Menschen so zuverlässig aus dem Gleichgewicht wie eine gute, ehrliche Emotion – vor allem im internationalen Vergleich. Oder, wie ich es nenne: der große Gefühls-Grand Canyon zwischen England und Deutschland.
 
Deutschland gilt: Gefühle müssen raus – am besten gründlich. Enttäuschung, Wut, Scham – alles wird benannt, gespürt, reflektiert. Deutsche lieben Gefühle. Also nicht das Fühlen selbst – das ist oft zu wild – sondern das Durcharbeiten von Gefühlen. Tiefer. Breiter. Länger.
 
In Deutschland ist „Lass uns reden“ ein Akt der Fürsorge. Deutsche glauben an die heilende Kraft des Gesprächs wie andere an Bachblüten oder Heilfasten. Wer liebt, redet. Und zwar gründlich, tief, manchmal unangenehm ehrlich.
 
„Ich bin am Ende meiner Kräfte“ ist kein Eingeständnis von Schwäche, sondern Teil des Selbstoptimierungsprozesses.
Die emotionale Innenarchitektur wird ständig renoviert. Fenster auf, Wahrheit rein.
 
„Ich fühle mich nicht gesehen“ hat eine emotionale Tiefe, die zur deutschen Diskurskultur passt. Nicht erkannt in unserer wahren Essenz?  Warum? Wann genau? Wie lange schon? Das ist kein Vorwurf. Das ist emotionale Inventur. Es ist ein Ruf nach Aufmerksamkeit.
 
In England ist das Zeigen von Gefühlen ungefähr so beliebt wie lautes Niesen in der Oper. Es gilt als zivilisiert, das Innenleben höflich zu tarnen – vorzugsweise mit Tee, Small Talk und einem gelegentlichen „It’s been a bit much lately.“
 
Übersetzt heißt das: „Ich habe eine emotionale Kernschmelze, aber ich möchte nicht, dass du dich unwohl fühlst. In Wahrheit liege ich nachts wach und hinterfrage mein gesamtes Leben, aber ich will jetzt nicht darüber reden, weil du dann vielleicht auch traurig wirst, und das wäre unangenehm. Deshalb funktioniere ich tagsüber wie ein höflicher Roboter.“
 
Was in Deutschland als Authentizität bezeichnet wird, würde man in England wohl emotional oversharing nennen.
Ich habe inzwischen gelernt, dass „I’m fine“ nicht immer „Mir geht’s gut“ bedeutet. Manchmal heißt es:
„Sprich mich bloß nicht darauf an, ich bin ein wandelnder Vulkan.“
 
Nicht jeder will reden, um zu lösen.
Manche wollen schweigen, um zu schützen.
Und andere brauchen fünf Tage, einen Waldspaziergang und ein Pint Guinness, bis sie sagen:
„You know… that thing you said… it kinda stayed with me.“
Das ist britisch für:
„Lass uns reden.“
Nur eben anders. Leiser. Und mit deutlich mehr Untertönen.
 
Und da fängt es an, das Mysterium: Wie erreicht man einen Menschen, dessen emotionale Firewall aus Ironie, Höflichkeit und „I’m fine“ besteht?

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