Contrasting Pairs

Intercultural Connection:

Unterschiedliche Kulturen – Meinungen – Wege

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Across the Channel: Gegensätze ziehen sich an

Deutschland und England. Zwei Länder, die sich im Grunde genommen mögen, aber trotzdem jedes Mal einen kleinen Kulturschock erleben, wenn sie sich begegnen. Es fühlt sich an wie ein Film mit Untertiteln, die immer eine Sekunde zu spät sind. Man versteht sich irgendwie – aber man ist sich nie ganz sicher. Das macht es ja gerade so spannend. Zwischen all der Verwirrung entsteht etwas Wunderbares – Lachen, Neugierde und eine charmante Art, sich nicht ganz zu verstehen, aber zu mögen.

Dennoch muss erwähnt werden, dass der Schatten des Zweiten Weltkriegs noch immer schwer auf dieser Beziehung lastet. Das macht es nicht gerade leichter, Vorurteile und Stereotypen abzubauen. Hinzu kommen neue Herausforderungen wie der Brexit und strenge Visabestimmungen. Trotz aller historischen und politischen Hürden lohnt es sich, die Beziehungen zu vertiefen.

In Zeiten der Unsicherheit werden zwischenmenschliche Beziehungen zu einer stabilisierenden Kraft. Soziale Nähe wirkt wie ein Gegengewicht zu äußerer Instabilität. Aber in unruhigen Zeiten ist Nähe keine Selbstverständlichkeit. Sie ist ein Akt des Willens. Eine tägliche Entscheidung.

Es war noch nie so einfach, mit der ganzen Welt verbunden zu sein – und doch fühlt es sich manchmal so schwierig an, wirklich verbunden zu bleiben. Kontakte gibt es im Überfluss, aber echte Verbindungen sind Mangelware. Lass uns in Kontakt bleiben“. Ein Satz, den man oft hört – und doch bleibt er selten haften. Die Menschen sind auf der Suche nach Zugehörigkeit. Nach Vertrauen. Nach echten Gesprächen, in denen nicht nur die Sprache, sondern auch die Bedeutung geteilt wird.

Sprache ist und bleibt ein Abenteuer. Obwohl, oder vielleicht gerade weil, viele Deutsche gut, aber nicht gut genug Englisch sprechen. Umgekehrt lernen manche Briten Deutsch, sprechen es aber nur ungern. So kommt es zu Missverständnissen oder Unsicherheiten in der Kommunikation, die Beziehungen belasten oder gar nicht erst entstehen lassen können.

Es ist meist nicht Liebe auf den ersten Blick, aber die Schwingungen zwischen den beiden ziehen sich gegenseitig an. Deutschland und England – ein Paar, das von seinen Gegensätzen geprägt ist. Der eine will Sicherheit durch Struktur, der andere Freiheit durch Gelassenheit. Wer international denkt, weiß, dass die spannendsten Entwicklungen immer genau dort beginnen, wo wir uns kurzzeitig unwohl fühlen. Wo wir die Kontrolle ein wenig loslassen. Wo wir die Dinge nicht sofort verstehen – und trotzdem zuhören.

Beim Wachstum geht es nicht nur um Zahlen, sondern um echte Verbindung. Und aufgeschlossen zu sein bedeutet nicht, dass man sofort mit allem einverstanden ist. Es bedeutet, dass man bereit ist, sich von vornherein herausfordern zu lassen. Von anderen Kulturen, anderen Meinungen, anderen Wegen, Dinge zu tun. Über die Unterschiede zu lachen, ist die beste Brücke, nicht wahr?

Vielleicht ist es gar kein Widerspruch. Es ist ein Kontrast oder ein unausgesprochener Pakt, um neue Horizonte zu eröffnen:

  • Die Deutschen bauen das Gerüst, damit die Welt nicht zusammenbricht.
  • Die Briten tanzen darauf, mit einem Glas Gin Tonic in der Hand und einem Regenschirm in der Tasche – für den Fall der Fälle.

Und irgendwo dazwischen liegt Europa. Oder zumindest die Sehnsucht danach.

Nachbarschaft: Gemeinschaft vs. Isolation

Es gibt zwei Dinge, auf die Engländer stolz sind: ihren Tee – und ihre Insel. Und während Tee weltweit exportiert wird, bleibt die Insel schön, wo sie ist: weit weg vom Rest. Man könnte denken, Insel versus Kontinent ist einfach Geografie.  Aber in Wahrheit geht es um die Seele. Engländer liegen die Isolation. Deutsche verstehen sie nicht, denn Deutschland ist von Nachbarn umzingelt.

In Deutschland liebt man die Gemeinschaft. Nachbarn grüßen sich, auch wenn sie sich hassen. Man trifft sich beim Straßenfest, diskutiert über die korrekte Mülltrennung und organisiert Vereinsfeiern. Deutsche katapultieren sich an den verlängerten Wochenenden mit über 180 km/h über die Autobahn in die Nachbarländer. Gemeinschaft bedeutet Sicherheit.

In England dagegen ist Isolation ein Grundrecht. Die Liebe zur Isolation ist tief verwurzelt. „It’s not that we don’t like you“, sagen sie dann höflich lächelnd. „We just like being… slightly unavailable.“ Die Insel bietet Schutz. Vor kontinentaler Hektik. Vor zu viel Nähe. Und vor der furchtbaren Vorstellung, dass jemand spontan zum Kaffee vorbeischneien könnte, ohne vorher mindestens zweimal anzurufen. Während sich auf dem europäischen Festland Menschen fröhlich in Cafés stapeln, Umarmungen verteilen und spontane Besuche organisieren, sitzt der Engländer selig auf seiner Klippe, schaut aufs graue Meer und denkt: „Herrlich – niemand kommt spontan vorbei.“ Die Insel ist nicht nur geographisch isoliert – sie ist ein emotionaler Schutzraum. Selbst die Natur spielt hier perfekt mit: Regen – hilft gegen unerwünschte Begegnungen. Sturm – verhindert größere Ausflugspläne. Dichter Nebel – ideal, um so zu tun, als hätte man den Nachbarn auf der Straße einfach nicht gesehen. Engländer lieben ihre Insel nicht trotz der Abgeschiedenheit – sie lieben sie wegen der Abgeschiedenheit. Das Wasser schützt vor Invasionen und Kontinental-Dramen. Hier kann man höflich sein, aber gleichzeitig verhindern, dass sich jemand zu sehr nähert. Und eine hervorragende Ausrede, falls man es mal wieder nicht aufs Festland schafft: „Oh dear, ferry’s cancelled. Storm coming in. Guess I’ll have to stay home and have some tea.“

Andere Völker bauen Mauern. Die Engländer haben einfach das Meer behalten. Und sie sind ehrlich genug, das nicht mal zu verbergen.

Fancy a Coffee or a Tea?

Es gibt Momente im Leben, da treffen nicht nur Menschen, sondern ganze Kulturen aufeinander.

Meine britische Freundin Claire und ich haben das regelmäßig – meistens in Cafés, wenn wir eigentlich nur kurz „einen Kaffee trinken“ wollen. Ein harmloser Satz, der sich in Berlin-Mitte schnell anfühlt wie ein Bewerbungsgespräch für eine Barista-Ausbildung. „Espresso, Flat White, Cold Brew mit Hafermilch oder Nitro-Kaffee mit Tonkabohne?“ fragt der Kellner.Claire schaut mich an, als hätte man ihr gerade einen IKEA-Bauanleitung vorgelesen – rückwärts.„I just want a tea“, sagt sie, höflich, verzweifelt, mit dem leicht leidenden Lächeln britischer Höflichkeit. Ich lächle zurück, auf meine deutsche Art: effizient, leicht überlegen, aber mit Herz. „Claire“, sage ich, „hier ist Tee das, was du trinkst, wenn du krank bist oder keine Lust auf Geschmack hast. Kaffee ist hier ein Grundnahrungsmittel. Ein Lebensprinzip.“ Claire blinzelt. „Tee ist ein emotionales Backup-System. Tee hält uns zusammen, wenn alles auseinanderfällt.“ Ich will kontern, aber der Kellner kommt zurück. Ich bestelle zwei Cappuccino. Claire widerspricht nicht. Wahrscheinlich aus Höflichkeit. Oder aus Angst.

Wir sprachen nie wieder über Kaffee. Aber wir trinken ihn regelmäßig – gemeinsam, schweigend, leicht ironisch. Freundschaft ist, wenn die Britin Tee vermisst und die Deutsche es nicht ausspricht – und beide trotzdem gleichzeitig sagen: „Fancy a Coffee?“

Chips: Paprika vs. Salt and Vinegar

Chips sind ein Spiegel der deutschen und englischen Seele und würden sich wunderbar als soziologischer Forschungsgegenstand eignen. In Deutschland stehen Paprika Chips für eine Sorte, die nicht sexy ist, aber sie funktioniert. Immer. Ein stabiler und verlässlicher Standard, wie die Verkehrsregeln.In England  ist ein bisschen stolz darauf, dass es Sorten wie „Roast Chicken“ gibt. Oder „Pickled Onion“, die einem beim Öffnen die Nase grillt. Chips sind Erlebnis. Geschmacksabenteuer. Paprika? Zu bodenständig. Zu kontinental. Zu… solide.

Ich stehe im Supermarkt vor einem meterlangen Chips-Regal. Bin voll im Jetlag und habe eine klare Mission: Paprika-Chips. Nicht zu würzig, nicht zu langweilig, ein aromatisches Versprechen auf Verlässlichkeit. Doch das Regal bietet: Salt & Vinegar. Cheese & Onion. Prawn Cocktail. Beef & Mustard. Thai Sweet Chili. Aber kein Paprika. Kein. Paprika. Also frage ich nach und die Verkäuferin schaut mich an, als hätte ich einen kulinarischen Frontalangriff gestartet und radioaktive Chili-Sauce extra hot verlangt. Mit leichter Verzögerung antwortet sie: „Paprika ist halt so… deutsch. Wir mögen es lieber speziell. Etwas woran man sich erinnert.“

Paprika-Chips fehlen den Briten nicht, weil sie sie nie hatten. Die  Deutschen lieben sie, weil sie nie überraschen. Manchmal ist die Snackkultur eben ein Spiegel der Seele. Und vielleicht genau das, was uns verbindet: Die einen suchen Geborgenheit im Geschmack. Die anderen ein Abenteuer im Beutel.

Mon Chéri: Aus der Zeit gefallen vs. exotische Leidenschaft

Es gibt Dinge, die versteht man erst, wenn man das Land wechselt. Linksverkehr. Pfefferminzsoße auf Lamm. Und: Die ungebrochene Leidenschaft der Briten für Mon Chéri. Ja, richtig gelesen. Diese rot glänzende Praline, die in deutschen Wohnzimmern fast ausschließlich zwischen Spitzendeckchen und Hustenbonbons gesichtet wird, hat in England Kultstatus.

In Deutschland war Mon Chéri früher mal das elegante Mitbringsel für die Schwiegermutter oder eben für Oma. Inzwischen wirkt die Marke ein bisschen aus der Zeit gefallen – Retro, aber nicht ganz cool-retro. In England hingegen fehlt dieser Ballast: Dort wurde Mon Chéri nicht in die 80er-Jahre-Kaffeekränzchen-Ecke gedrängt, sondern durfte einfach „Fancy Chocolate with Booze“ bleiben. Warum? Ganz einfach: In England gilt Mon Chéri als sexy. Als dekadent. Als „a little bit naughty“. Und das, obwohl die Verpackung aussieht, als hätte sie ein 90er-Jahre-Grafikprogramm designt. Dort steht Mon Chéri für den Mythos Europa. Ein bisschen wie Urlaub in einer Schachtel. Für laue Sommernächte in Rom und französische Flirts mit schlechtem Rotwein. Ein bisschen Klischee, aber liebenswert. Die Briten beißen rein und schmecken: Exotik. Leidenschaft. Und einen Schuss „Ich weiß nicht genau, was das ist, aber es knallt ganz nett.“

In Deutschland dagegen erinnert Mon Chéri eher an die Pralinenschale in Omas Anrichte oder Tante Gisela  auf der Couch beim Fernsehgarten. Das habe ich natürlich auch meine Englischen Freunde wissen lassen. Habe erklärt, dass Mon Chéri in Deutschland ungefähr so cool ist wie ein VHS-Kurs in Topflappenhäkeln. Dass man sie höchstens noch verschenkt, wenn man den Eindruck erwecken will, man habe sich Mühe gegeben, aber bitte nicht zu viel.

Sie haben nur gelächelt, die Praline mit zwei Fingern angehoben wie einen kleinen Schatz – und gesagt: „You Germans have no idea what you’re missing.“ Vielleicht haben sie recht. Vielleicht sind wir einfach zu nüchtern für eine Schokolade, die mehr Prozente hat als unsere Silvesterbowle. Und vielleicht sollten wir öfter mal einen Schritt zurücktreten und uns fragen: Ist es wirklich Mon Chéri, das altmodisch ist – oder sind wir es?

Doctor of Brezel vs. Master of Tea

In Deutschland hat Bildung Gewicht. Ernsthaft. Ein Hochschulabschluss ist ungefähr so wichtig wie Sauerstoff: Man braucht ihn, sonst stirbt man – zumindest karrieretechnisch. Das deutsche Ideal lautet: „Je länger du studiert hast, desto besser. Noch ein Master? Besser ist das. Eine Promotion? Warum nicht gleich zwei?

Der Klassiker: Jemand stellt sich in Deutschland in informeller Runde vor und sagt: „Guten Morgen, ich bin Thomas Obermayer, Dipl.-Ing., M.Sc., zertifizierter Scrum Master und Experte für künstliche Intelligenz.“ In England dagegen reicht: „Hi, I’m Tom.“

In England ist ein Studium oft eine schöne, manchmal sogar notwendige Etappe – aber es ist selten der heilige Gral des Lebenslaufs. Wer clever, freundlich und nicht völlig inkompetent wirkt, hat in Großbritannien auch ohne akademische Superkräfte Chancen auf einen guten Job.

In Deutschland? Viel Glück dabei, dich als „Motivierter Quereinsteiger“ auf eine Stelle zu bewerben.  Hier gilt: Kein Abschluss? Kein Gespräch. Kein Gespräch? Kein Job. Kein Job? Willkommen zurück im Bachelorstudium, diesmal BWL, Schwerpunkt „irgendwas mit Medien“.

Dazu kommt die unerschütterliche deutsche Liebe zu Titeln: Ein Professor bleibt hier Professor, auch wenn er nur Brötchen holt. Ein Dr. Dr. h.c. fährt auf seiner Visitenkarte schwerere Geschütze auf als ein mittelgroßer Panzerverband. Und wehe dem Personalchef, der aus Versehen Herr anstatt Professor Doktor schreibt – dann kann er seine Karriere gleich auf LinkedIn beerdigen. In England hingegen: Man verzichtet auf Titel fast schon mit Absicht. Wer sich mit Doctor anreden lässt, läuft Gefahr gefragt zu werden, ob er bei Rückenbeschwerden helfen kann.

Zusammengefasst:

  • England: Studium = Kann man machen. Wenn nicht, dann halt über Kontakte, Chuzpe und einen ordentlich gebügelten Blazer.
  • Deutschland: Studium = Ohne amtlich beglaubigten schriftlichen Nachweis mit Stempe geht einfach gar nichts.

Vielleicht ist das deutsche Modell am Ende sicherer – aber ganz ehrlich: Manchmal sehne ich mich nach der englischen Leichtigkeit. Danach, dass man einfach jemand sein kann, ohne vorher dreizehn Mal „Zeugnis bitte rückseitig beglaubigen lassen“ gehört zu haben.

Während der Engländer entspannt auf dem Golfplatz noch über seinen Gap Year auf Bali sinniert, sitzen wir Deutsche da und überlegen, ob auf dem Golfplatz vielleicht nur für Leute mit Diplomarbeit über Rasenpflege zugelassen werden.

Living style: Praktikabilität vs. Charme

Beim Hauskauf merkt man sofort, dass man in England ist. „It’s a lovely three-bedroom house!“ ruft der Makler begeistert – und zeigt auf eine Tür, hinter der sich ein Raum verbirgt, der in Deutschland als begehbarer Kleiderschrank durchgefallen wäre.

In Deutschland zählt man nüchtern die Quadratmeter. „Wie groß ist eure Wohnung?“ — „92 Quadratmeter.“ Das klingt nüchtern, effizient, messbar. Sie stellen Fragen wie: „Wie viel kostet die Quadratmeter kalt?“ Deutsche Wohnungen sind meistens logisch geschnitten: Küche, Bad, Wohnzimmer, Schlafzimmer. Fertig. Und wehe, der Flur ist größer als das Bad! Da wird die Wohnung sofort disqualifiziert wie ein Doping-Sünder bei Olympia.

In England dagegen zählt nicht die Fläche, sondern die Anzahl der Schlafzimmer. „It’s a three-bedroom house!“ Das klingt erstmal riesig – könnte aber bedeuten: drei winzige Kämmerchen, die zusammen gerade so groß sind wie eine deutsche Wohnküche. Engländer fragen: „Does it have original features?“

Deutsche Wohnungen sind funktional. Sie haben oft eine perfekte Heizungsanlage, überall Steckdosen im richtigen Abstand.  und exakt ausgerichtete Fenster (damit die Gardinen genau passen). Alles strikt nach DIN Norm. Praktisch, praktisch, praktisch.

Englische Häuser dagegen versprühen Charme: knarzende Dielen, krumme Wände, ein offenes Kaminfeuer (das niemals benutzt wird, weil es zieht), und Fenster, die garantiert irgendwo klemmen. Dazu passt das typische englische Badezimmer: gerne im Erdgeschoss, hinter der Küche, kalt und charmant unpraktisch. In Deutschland? Undenkbar. Das Bad ist heilig. Fußbodenheizung, Handtuchwärmer, ein Tempel der Funktionalität.

Am Ende hat beides seine Schönheit: In Deutschland lebt man praktisch – in England lebt man poetisch auf zu wenig Raum.

Deutsche Küche: Rationalität vs. Emotion

Es gibt Dinge, für die Deutschland weltweit berühmt ist: Autos, Pünktlichkeit und … Küchen. Oder wie ein englischer Freund mal seufzend sagte: „When I see a German kitchen, I feel safe.“

Für Engländer ist die German Kitchen nicht einfach ein Raum, in dem gekocht wird. Nein, sie ist ein Symbol. Ein Sehnsuchtsort. Eine technische Festung gegen das Chaos des Lebens. Während die klassische englische Küche oft charmant improvisiert wirkt („Die Mikrowelle steht auf der Waschmaschine, die Kaffeemaschine im Flur, und den Kühlschrank finden Sie draußen neben dem Gartenschuppen“), betreten Engländer eine deutsche Küche wie einen Tempel der Ordnung. Alles hat seinen Platz: Der Backofen auf ergonomischer Höhe. Der Mülltrenner mit mindestens drei Fächern. Schubladen, die sanft schließen wie ein Rolls Royce.  Und selbstverständlich eine Arbeitsfläche aus einem Material, das notfalls den dritten Weltkrieg überstehen würde.

Kein Wunder also, dass in London ganze Immobilienanzeigen stolz verkünden: „Fitted with a real German kitchen!“ Und die Käufer sich fühlen, als hätten sie gerade einen Bunker in den Alpen reserviert. Warum diese Liebe? Weil die German Kitchen eine seltene Kombination aus Rationalität und Zukunftsvision ist: Selbst wenn draußen die Welt untergeht, wird drinnen der Kaffee noch exakt auf 92 Grad gebrüht. Natürlich verstehen Deutsche diese Ehrfurcht nicht. Für sie ist eine Küche einfach funktional. Man erwartet nicht, dass sie eine emotionale Reaktion auslöst. Man will doch nur – naja – Wasser kochen, Gemüse schnippeln und den Backofen nicht selbst zusammenschrauben müssen.

In England dagegen wird die Küche zum Symbol eines besseren Lebens: Eines Lebens, in dem Schubladen nicht klemmen, Arbeitsplatten nicht schief sind, und der Wasserhahn nicht warm wird, indem er über den Toaster läuft. Für die englische Seele ist die German Kitchen der stille Beweis, dass irgendwo da draußen eine Welt existiert, in der alles funktioniert.  Und wer weiß – vielleicht fangen die Engländer ja irgendwann auch an, ihre Badezimmer von Deutschen planen zu lassen. Aber das wäre dann vermutlich zu viel Glück auf einmal.

The Flow of Conversation: Struktur vs. Dynamik

Ich habe ja immer geglaubt, dass die Engländer die Meister der Höflichkeit sind. In meiner Vorstellung: Ein höfliches Nicken hier, ein verständnisvolles Murmeln da, Tee in der einen Hand, Contenance in der anderen. Bis ich dann wirklich dabei bzw. mittendrin war. Die Überraschung: Engländer unterbrechen sich – und zwar ständig. Ein englisches Gespräch ist wie ein Cricket-Spiel: Ständig wird reingerufen, kommentiert, gelobt, ein bisschen geschubst – aber bloß nicht zu direkt. Im Unterschied dazu sind deutsche Unterbrechungen wie Handball: Ball weg! Redezeit erobert! Richtung gewechselt! Während der Deutsche bei der dritten Unterbrechung innerlich schon nervös auf die Uhr schaut, denken sich die Engländer: Ach wie schön – das Gespräch lebt! Noch einen Tee?

Engländer unterbrechen, um das Gespräch am Leben zu halten. In Deutschland dagegen bedeutet eine Unterbrechung oft: Jetzt rede ich. Jetzt kommt die Korrektur. Jetzt wird der Gedanke geradegezogen wie ein schiefer Bilderrahmen. Ein deutscher Gesprächspartner unterbricht, um Struktur zu retten. Ein englischer Gesprächspartner unterbricht, um Stimmung zu retten.

In England redet irgendwann jeder gleichzeitig, alle lachen, niemand weiß mehr genau, worum es ging – aber alle fühlen sich fantastisch. „Interruptions are not rude. Silence is.“ Und in Deutschland? Wenn zwei sich gleichzeitig unterhalten, wird erstmal beschlossen, wer jetzt offiziell dran ist. Und danach gibt es einen Redebeitrag über Gesprächsdisziplin. Am Ende soll ein Gedanke sauber abgeschlossen sein.

Eine britische Freundin hat mir augenzwinkernd erklärt: „Interruptions are just our way of saying: We’re still awake and we love you.“

Awkward situation: Was soll das sein vs. Weltuntergang

Manchester, Piccadilly Station, 08:17 Uhr. Rush Hour. Ich stehe auf der Rolltreppe. Links: Überholspur. Rechts: Stehstreifen. So steht’s geschrieben im geheimen Ehrenkodex des britischen Nahverkehrs. Und natürlich – ich habe es vergessen. Ich stehe – wie in Deutschland –  links. Ich blockiere die linke Seite. Ein Husten hinter mir. Dann ein weiteres. Ein bedeutungsschwangeres Räuspern. Niemand sagt was. Natürlich nicht. Stattdessen wird die Spannung spürbar. Eine ältere Dame hinter mir beginnt, sich auffällig die Handschuhe auszuziehen. Alle leiden still. In Deutschland hätte man mich längst mit einem „Entschuldigung, darf ich mal durch?!“ zur Seite gebrüllt.

In England? Es wird gelitten. Aber stilvoll. Ich lerne: In Manchester ist nicht der Linksverkehr die größte Herausforderung, sondern der emotionale Slalom um Peinlichkeiten.

In England gelten unangenehme soziale Zwischenräume – awkward situations – als größter anzunehmender Unfall. Schweißausbrüche. Fluchtreflex. Interne Systemüberlastung. Gesellschaftliche Erdbeben. Sie bringen plötzlich Gefühle und Unsicherheiten an die Oberfläche. Und das ist, als würde man mitten im Pub die Hose verlieren: absoluter Kontrollverlust. Der Engländer meidet jede Form von sozialem Ungeschick. Gefühle? Lieber nicht. Körperkontakt? Nur, wenn jemand auf dem Zebrastreifen stirbt. Emotionale Ehrlichkeit? Vielleicht nach fünf Guinness. Vielleicht.

Engländer meistern die Kunst des belanglosen Gesprächs wie ein Samurai sein Schwert. „Lovely weather, isn’t it?“ funktioniert in jeder Lebenslage. Eine awkward situation durchbricht diesen Schutzschild – plötzlich steht man nackt da, metaphorisch gesehen, und muss wirklich reden. Horror! Man entschuldigt sich lieber, dass man existiert, als jemanden in eine unangenehme Lage zu bringen. Eine awkward situation löst einen Tsunami an Entschuldigungen aus, weil niemand mehr weiß, wofür man sich eigentlich entschuldigt – man tut es einfach, aus Prinzip. Und danach nochmal zur Sicherheit.

Ich frage mich manchmal, wie ein Engländer wohl eine deutsche Familienfeier überleben würde. Zwölf Leute in der Küche, einer weint, zwei diskutieren lautstark über Kapitalismus, und Oma packt irgendwann die Sache mit der Beerdigung aus. Ein Engländer würde rückwärts aus dem Fenster flüchten. Leise. Und sich dafür entschuldigen. Und ich? Ich übe noch.

Logik: Heimliche Religion vs. Gefühl für die Situation

In England bestellt man Cappuccino. Man bezahlt erst an der Kasse, dann wird man an die Bar geschickt, dann ruft jemand einen Namen, dann fragt jemand anderes, was man überhaupt wollte. Ich stehe da und frage mich: Warum gibt es keinen klaren Ablauf? Keine Nummern? Keine Logik? Der Brite hinter mir grinst und sagt: „Just go with the flow, mate.“ Für ihn völlig normal. Für mich ein Angriff auf mein inneres Ordnungssystem.

Wenn ein Deutscher sagt: „Das ist nicht logisch,“ ist der Drops gelutscht. Logik ist im deutschen Diskurs nicht nur eine Denkweise – sie ist eine geheime Staatsreligion. Diskussionen werden hier wie mathematische Beweise geführt: Hypothese, Beleg, Schlussfolgerung. Wer es wagt, eine Meinung zu äußern, ohne dass diese durch eiserne Logik gestützt ist, riskiert soziale Ächtung.

Ganz anders auf der Insel. In England wird „Logik“ gerne durch etwas ersetzt, das man wohlwollend als Gefühl für die Situation bezeichnen könnte. „It doesn’t have to be logical – it just has to work,“ lautet dort die Devise. Regeln? Nett gemeint, aber oft optional. Widersprüche? Ein Teil des Charmes.

Während der Deutsche sich empört fragt, wie ein Schild gleichzeitig „Parken verboten“ und „Parkdauer 30 Minuten“ anzeigen kann, lehnt sich der Engländer entspannt zurück und murmelt: „Oh well, it’s a bit of a mess, isn’t it?“ – und stellt sein Auto genau da ab.

Am schönsten wird der Unterschied im Humor: Deutsche Pointen bauen auf einem logischen Bogen auf. Wenn am Ende kein klarer Zusammenhang existiert, ist das Publikum verwirrt statt amüsiert. Britischer Humor hingegen lebt vom Bruch der Logik – je absurder, desto besser.

Monty Python hat eine ganze Karriere daraus gemacht, dass die Pointe fehlt. Und das ist… irgendwie… logisch. Nur eben auf englische Art.

Beziehung: Loyal vs. Flyty

Manche Menschen bauen Beziehungen wie Fachwerkhäuser. Mit tragenden Balken, guter Statik und dem festen Willen, dass das Ganze auch noch in Jahrzehnten. Silke ist so ein Mensch. Wenn sie eine Freundschaft eingeht, dann ist das ein Generationenvertrag. Mit Verantwortung und Pflege. Freundschaften sind wie Pflanzen. Sie brauchen Licht, Luft – und gelegentlich Wasser. Silke glaubt das auch. Wie eine Gärtnerin behält ihre Freunde im Blick, bleibt im Kontakt, lädt regelmäßig zum Freundschafts-Brunch ein, ein Excel-basiertes Erinnerungssystem ploppt auf, wenn Geburtstage nahen.

Henry dagegen… baut eher Baumhäuser. Spontan, wacklig, mit bunten Wimpeln. Schön – aber wenn’s regnet, tropft es rein. Es ist mehr so der Typ „Wildwuchs“. Er hat ein flatterhaftes Temperament und meldet sich spontan, zu unpassenden Zeiten, mit Sätzen wie:  „Hab an dich gedacht – vor drei Wochen – jetzt ist’s halt spät, aber ehrlich.“ Stabilität und Beständigkeit sind seine Sache nicht.

Und doch – seit über zehn Jahren sind sie Freunde. Wie das geht? Vielleicht, weil Silke nie erwartet hat, dass Henry pünktlich antwortet. Und Henry irgendwann verstanden hat, dass Silke nicht fragt, ob er Zeit hat – sondern einfach vorbeikommt, wenn es drauf ankommt.

Letzten Herbst, nach seiner fünften Trennung in drei Jahren, rief Henry an. „Ich glaub, ich bin beziehungsunfähig“, sagte er. Silke antwortete nicht sofort. Sie trank erst ihren Kaffee aus. Dann sagte sie:„Kann sein. Aber du bist freundschaftsfähig. Das zählt.“ Henry war still. Für einen Briten ein seltener Zustand. Dann sagte er: „Du bist wie… meine deutsche Konstante.“ Und Silke, die sonst nie pathetisch wird, sagte: „Du bist meine liebenswerte Unsicherheit.“

Freundschaft heißt manchmal, auszuhalten, dass der andere anders tickt. Dass man selbst auf Langfristigkeit baut – während der andere gerade nicht mal weiß, was es morgen zu essen gibt. Aber wahre Freundschaft braucht nicht Gleichklang, sondern das Vertrauen, dass auch ein flatterhaftes Herz verlässlich schlagen kann – wenn man es lässt.

Seelenstriptease: Deep Dive vs. Teatime

Es gibt Gespräche, die beginnen mit „Na, wie geht’s?“ – und enden drei Stunden später bei Kindheitstraumata, Existenzfragen und der Frage, warum man mit 49 immer noch Menschen beeindrucken will, die man gar nicht mag. Silke liebt solche Gespräche. Für sie ist „Wie geht’s dir wirklich?“ keine rhetorische Floskel, sondern echtes Interesse und bei Bedarf eine Einladung zum Seelenstriptease. Sie glaubt an Tiefgang. An Ehrlichkeit. An das Gespräch als Ort der Entwicklung und taucht gerne relativ schnell tief ein.

Henry hingegen… glaubt an Tee. Wenn man ihn fragt, wie’s ihm geht, sagt er: „Fine“ oder maximal „Can’t complain.“ Selbst wenn er gerade seinen Job verloren, sein Auto geschrottet und einen Bandscheibenvorfall hat. Smalltalk ist für ihn keine Oberflächlichkeit – es ist Lebensart. Ein höflicher Regenschirm, unter dem man sich durchs emotionale Wetter lavieren kann, ohne nass zu werden.

Eines Abends, beim wöchentlichen interkulturellen Freundschaftsritual – „Gin & Genuine Feelings“ sitzt Henry bei Silke auf dem Sofa, starrt in seinen Drink und sagt nach dem dritten Schluck: „Ich glaub, ich hab mich verlaufen. Im Leben. Also… metaphorisch.“ Silke setzt ihre Brille ab. Jetzt wird’s ernst. „Willst du drüber reden?“ Henry zuckt die Schultern. „Können wir erstmal noch einen Tee machen?“ Silke atmet tief durch. Holt die Teekanne. Und macht – zum ersten Mal – eine Pause, bevor sie tiefer gräbt. Zwanzig Minuten später, als der Tee die Welt ein bisschen weicher wirken lässt, sagt Henry plötzlich: „Weißt du, es ist nicht so, dass ich nichts fühle. Ich fühl zu viel. Ich sag’s nur nicht immer sofort. Das macht’s real.“ Silke nickt. Zum ersten Mal versteht sie: Henry braucht den Umweg. Den Tee. Die Witze. Die Wetterberichte. Nicht, weil er oberflächlich ist – sondern weil er langsamer taucht.

Es braucht Geduld und genug Tee um sich zwischen „Wie war dein Tag?“ und „Wer bist du eigentlich, wenn keiner hinschaut?“ zu treffen.  Und das ist dann… ziemlich tief. Trotz Teatime.

Sauna: Entspannung vs. Vorhof zur Hölle

Ich hatte die großartige Idee, meinem englischen Freund die deutsche Sauna-Erfahrung zu schenken. „It’s relaxing!“, versprach ich. „Ganz authentisch!“ Rückblickend hätte ich auch sagen können: „It’s mildly traumatic, but builds character.“

Der erste Schock kam direkt am Eingang. „No swimwear allowed“ stand auf dem Schild. Mein Freund las es dreimal, als hoffte er auf einen Tippfehler. Nackt in Gesellschaft – für einen Engländer in etwa so vorstellbar wie Fish and Chips ohne Essig. Während ich schon die Bademantel-Schicht abwarf, stand er da, wie ein in die Ecke gedrängter Gentleman, der innerlich zwischen Flucht und Höflichkeit rang.

Drinnen dann die legendäre Handtuchfrage. Deutsche breiten ihr Handtuch aus, als würden sie Landrechte sichern: akribisch, flächendeckend, kein Zentimeter Holz unbedeckt. Keinen Schweiß aufs Holz tropfen zu lassen! Mein Freund hingegen legte sein Handtuch ordentlich neben sich und setzte sich direkt auf die Bank. Ich hörte ein kollektives inneres Aufstöhnen. In diesem Moment wurde klar: Er hatte den geheimen Saunakodex gebrochen, ohne es zu wissen.

Und dann diese Stille. Eine Stille, die nicht einfach die Abwesenheit von Geräuschen war, sondern ein Statement. Mein Freund versuchte anfangs noch tapfer, ein Gespräch zu beginnen – verstummte aber schnell unter den Blicken, die sagten: „Reden? Hier? Das ist kein Pub.“ Ich sah, wie er innerlich alle Fragen hinunterschluckte und stattdessen angestrengt die Holzmaserung studierte.

Dann kam der Aufguss. Der Saunameister trat ein, mit der Aura eines Zeremonienmeisters, bewaffnet mit einem Eimer Wasser und einem Handtuch, das bald zu einer Waffe der Windkraft werden sollte. Wasser zischte auf die Steine, Dampf wallte auf, und dann begann das große Wedeln. Ich sah, wie mein Freund die Augen zusammenkniff und sich immer kleiner machte. Er wirkte wie jemand, der in einen netten Spaziergang eingeladen wurde und sich plötzlich in einem Feuerritual wiederfindet.

Nach dem Aufguss taumelte er hinaus, stand vor dem Kaltwasserbecken und blickte hinein, als läge darin der Atlantik. „Die springen da ernsthaft rein?“ war in sein Gesicht geschrieben. Bevor er fliehen konnte, warf sich ein kerniger Herr mit wohligem Seufzer ins Wasser. Mein Freund entschied sich fürs Handtuch – diesmal aber sicherheitshalber drum gewickelt.

Später, beim Bier, lehnte er sich zurück, sah mich lange an und sagte: „That was… an experience.“ Ich prostete ihm zu. Deutsche Sauna: für uns ein entspannter Ausflug. Für ihn ein epischer Überlebenskampf. Aber immerhin – er hat es überstanden. Fast nackt, fast cool.

ESC: Sympathiepunkte? Leider NULL!

Es gibt Dinge, auf die man sich im Leben verlassen kann: Die Deutsche Bahn kommt zu spät, britischer Humor ist trocken, und beim Eurovision Song Contest landen Deutschland und Großbritannien zuverlässig im letzten Drittel. Auch 2025 hat uns nicht enttäuscht. Also: uns schon – aber nicht unsere Erwartungen.

Natürlich gibt es dafür gute Erklärungen. Politisch. Emotional. Kulturell. Vielleicht ist es Karma. Vielleicht ein langanhaltender Brexit-Hangover. Oder vielleicht liegt es daran, dass beide Länder immer noch glauben, beim ESC gehe es um Musik.

Deutschland liebt Botschaften. Songs über Zusammenhalt, Frieden, manchmal auch Steuerpolitik. Großbritannien hingegen schickt Acts, die aussehen, als hätten sie in einem BBC-Kostümfundus gewonnen – musikalisch irgendwo zwischen Adele im Proberaum und TikTok auf Valium.

Und während die Niederlande den ESC inzwischen wie ein zweites Spotify behandeln und Schweden einfach die Abba-DNA geimpft wurde, schauen Deutschland und Großbritannien dem bunten Spektakel zu wie Eltern bei einer Technoparty: höflich lächelnd, innerlich schreiend.

Doch was soll’s. In einer Welt voller Unsicherheiten sind wir wenigstens die Konstanten im ESC-Kosmos. Wir sind die Basislinie, der untere Referenzwert. Wir geben den anderen Ländern das gute Gefühl: „Immerhin waren wir nicht Letzte.“ Das ist doch auch ein Dienst an Europa.

Und wer weiß – vielleicht schicken wir 2026 einfach mal einen Hund auf einem Hoverboard oder ein Jodel-Duo im Glitzeranzug. Hauptsache, wir versuchen es weiter. Denn wenn Europa eins braucht, dann Länder, die sich nicht zu schade sind, mit Würde zu verlieren.

Gin rund um die Uhr:
London klassisch, München kreativ

Donnerstagabend, London, irgendwo in Mayfair. 17:00 Uhr.

Stilvolle Hotelbar. Ich bestelle einen Gin Tonic. Der Barkeeper – Typ James-Bond-Nebenrolle mit akkurat gefalteter Einstecktuch-Energie – nickt leicht.
 
„London Dry?“ fragt er. Ich nicke.
Nur Gin.
Und Tonic.
Und ein einziger, diskreter Eiswürfel.  So britisch zurückhaltend, dass er sich fast entschuldigt, im Glas zu sein.
Elegant serviert, mit einem Hauch Understatement und dem unausgesprochenen Versprechen, danach über Oscar Wilde oder den Brexit zu diskutieren.
 
Ich setze mich in einen Sessel, der so tief ist, dass ich kurz an meine Bandscheibe denke, und beobachte die anderen Gäste. Sie trinken auch Gin Tonic – in vollkommener Gleichgültigkeit. In London ist das kein Lifestyle-Statement, sondern ein Grundrecht.
 
Der Gin Tonic wirkt nach dem dritten Schluck. Ich fühle mich sophisticated, cosmopolitan – und dezent betrunken, aber auf eine Art, die sich sehr gut unter einem Kaschmirpulli verstecken lässt.

In England beginnt der Abend mit einem Gin Tonic. Gin o’clock ist kein Zufall, sondern eine gesellschaftliche Institution. Er markiert die feine Linie zwischen I worked hard today und I deserve this.
In London trinkt man Gin Tonic nicht, um aufzufallen – sondern um nicht aufzufallen.
 
Freitagabend, München, Bar in der Maxvorstadt.  23:00 Uhr.

Ich betrete die Bar – oder sagen wir besser: das „Botanical Experience Lab“. Die Getränkekarte ist in Leinen gebunden, das Personal trägt Schürzen aus gewachster Bio-Baumwolle, und irgendwo im Hintergrund läuft ein Remix von Vivaldi mit Waldgeräuschen.
 
Ich bestelle einen Gin Tonic. Der Barkeeper – Typ bärtiger Alchemist mit Tätowierung von einer Gurke in geometrischem Design – nickt wissend.

„Welcher Gin darf’s denn sein? Wir haben 42 Sorten. Eher floral, zitrisch oder wacholderbetont?“
Ich: „Ähm… klar.“
 
Er greift nach einer Flasche, die aussieht wie ein Parfümflakon, träufelt etwas hinein, fügt mit einer Pinzette drei exakt gleich große Pfefferkörner hinzu, dann eine Zitronenzeste, einen Rosmarinzweig (geflammt), und übergießt das Ganze mit Tonic – aber natürlich nicht einfach so, sondern per Pipette.
Er stellt mir das Glas hin und sagt mit ernster Miene:
„Das ist unser ‚Gingko-Nimbus‘. Mit einem Hauch Nebel aus dem Berchtesgadener Land. Bitte vor dem Trinken kurz das Aroma einatmen.“
 
Ich schnuppere. Es riecht… nach Konzept
.
Am Nebentisch erklärt ein Mann im Designerhemd seiner Begleitung, dass sein Gin mit wildem Enzian aus Bhutan destilliert wurde – „aber nur in Jahren mit unterdurchschnittlichem Monsun“. Sie ist beeindruckt. Er ist beeindruckt. Der Gin auch.
 
Ich trinke. Es schmeckt gut.

Der deutsche Gin Tonic ist kein Aperitif. Er ist ein Epilog.  Das Gin-Finale beginnt, wenn jemand am Tisch sagt: „Noch einen Absacker?“ Gin Tonic ist ein Bar-Survival-Getränk. Man steht mit dem Glas in der Hand in einer hippen Lounge und der leisen Hoffnung, dass irgendwann ein Taxi vorbeikommt.
 
Ein bisschen vermisse ich den englischen Gin Tonic.
Ohne Lavendel.
Ohne Weltreise im Glas.
Ohne Aromanebel.
Nur Gin und Tonic.
Vielleicht bin ich altmodisch. Zum Wohl!

4 Responses

    • Vielen Dank für das Feedback. Eine Reise nach England kann ich auf jeden Fall empfehlen. Es warten spannende Erfahrungen!

  1. Ich habe viel über die Unterschiede zwischen der deutschen und der englischen Kultur gelernt. Vieles war mir nicht bewusst. Ich sehe meine funktional eingerichtete, strukturierte Küche nun mit ganz anderen Augen. Und wenn ich Mon Chéri im Regal sehe, werde ich künftig an diesen Blog denken 😉
    Danke für die Einblicke.

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